berlin, 22. januar 2018
von schönheit erzählen
vorwort buch 2
von chris dercon und marietta piekenbrock
Liebes Publikum, vor uns liegen fünf Jahre. Man könnte auch – entsprechend der alten Bauregel des Dramas –
von fünf Akten sprechen. Der erste Akt ist der Handlungsbeginn. Er gilt der Exposition der Konflikte. Akteure
betreten den Raum und schieben ihre Welt zwischen unsere Augen und Ohren: ein Alphabet von 10000 Gesten, ein
grellroter Mund auf dunkler Leinwand, ein flackernder Geist im Lichtstrahl, Maschinengefährten oder menschliche
Körper in neu entstehenden Ensembles.
Die Volksbühne ist ein Haus mit spezialisierten Handwerksbetrieben und einer starken Infrastruktur, die sensibel
auf die künstlerische Produktion ausgerichtet sind.
Viele der Künstler*innen, die in den letzten Monaten an der Volksbühne inszeniert haben, erlebten zum ersten Mal
welche Kraft sich entfaltet, wenn sich ein ganzes Theater intensiv und manchmal wochenlang auf die Vorbereitung
einer Aufführung konzentriert. Für den syrischen Autor Mohammad al Attar zum Beispiel, der von Damaskus nach
Berlin gezogen ist, den französischen Choreografen Boris Charmatz, dessen Familie vor den Nationalsozialisten
fliehen musste, oder der thailändische Filmregisseur Apichatpong Weerasethakul, der sich in Europa genauso
zuhause fühlt wie in seiner Heimat. Unser Theater für sie zu öffnen, steht für die Auseinandersetzung
Deutschlands mit der Welt. Und auch für die Auseinandersetzung Deutschlands mit sich selbst. Bis zum Ende
der Spielzeit werden wir gemeinsam die Fundamente für ein neues Repertoire legen, in dem die verschiedensten
Kulturen und Sprachen zum Ausdruck kommen und sich eine wandelnde Welt spiegelt.
Wenn es so etwas wie ein immaterielles Weltkulturerbe gibt, dann zählt ein Stadttheater ohne Grenzen wie die
Volksbühne unbedingt dazu. Wir verstehen es als ein Erbe, an dem die gesamte Welt teilhaben kann, als einen Ort,
der allen Kulturen und Kunstformen gehört. Wir haben uns in Europa zurecht darauf geeinigt, dass unsere
Gesellschaften Differenz aushalten und gestalten müssen. Unsere Vorstellung von dem, was ein Kollektiv ist,
hat sich verändert. Das hat Einfluss auf die Durchlässigkeit und Sprachen des Theaters und die Idee von einem
Ensemble, das wir in Zukunft für neue Gemeinschaften und Formen der Zusammenarbeit öffnen möchten.
Kürzlich erinnerte der Choreograf Jérôme Bel seine Zuschauer an Klaus Michael Grüber, der 2008 verstarb und der
den Regisseur als einen Menschen beschreibt, der von der Schönheit erzählt. Er ist jemand der die Angst der
Schauspieler tilgt und ist die Angst einmal genommen, werden sie dermaßen schön. Ich hatte das Glück, ein sehr
schwacher Mensch zu sein, in dem Sinne, dass ich nichts vortäusche.“ Von Schönheit erzählen und sich angreifbar
machen – das ist unsere Herausforderung.
Wir bedanken uns bei unserem Publikum, dass uns seit dem Start vom Flughafen Tempelhof an den Rosa-Luxemburg-Platz
gefolgt ist, um sich ein eigenes Bild von der neuen Volksbühne zu machen. Neben vielen bekannten Gesichtern hat eine
neue Generation im Zuschauerraum Platz genommen und einem archaischen Versammlungs-Ritual ein junges, offenes Gesicht
gegeben. Herzlich willkommen!
www.volksbuehne.berlin