berlin, 16. mai 2017
statement
pressekonferenz, volksbühne berlin
Doing Kunst lautete der Selbstauftrag, mit dem Samuel Beckett im September 1936 seine
Winterreise durch Deutschland begann. Forscherisch, mit dunklem Humor tastete der 30jährige
die Oberfläche der Städte und ihrer Innenräume ab. Museen und
Galerien, aber auch Theater, Bibliotheken und Wirtshäuser waren sein Ziel. Die deutsche Kunst
und Kultur erlebte er als eine Kultur der Extreme. Auf irritierende Weise begannen sich in Berlin
und München Faschismus und Moderne zu ordnen, zu bedrohen und gegenseitig auszugrenzen. Becketts
Deutsche Tagebücher, die nun bald Deutsch vorliegen, lesen sich wie das Protokoll einer
intellektuellen Malaise: „Deutschland ist grässlich“ resümiert er. Fünfzehn Jahre später
sah das, was wir bisher Literatur nannten, sah das, was wir als Theater kannten anders aus.
Wir sind in den letzten Monaten häufig nach der Zukunft des Theaters gefragt worden. Wir
sind keine Propheten. Wir wissen nicht, welche Zukunft der Fall sein wird. Aber wir
können unsere Aufmerksamkeit für Momente in der Geschichte schärfen, die Zukunft
charakterisieren und versuchen, daraus Anleitungen zu entwickeln. Wenn Regisseure, Autoren,
Filmemacher heute erleben, dass ihre Kunst, ihre Literatur, ihr Theater machtlos ist angesichts totalitärer
Bedrohungen oder populistischer Bewegungen, dann ist das so gefährlich, dass man nicht mal darüber nachdenken
will. Aber von anderen Epochenübergängen und charismatischen Nullpunkt-Situationen wissen wir, dass gerade der
Verlust von Wirkungsmacht, dass gerade ästhetische und historische Umbrüche die Theater unter Druck gesetzt
und stark gemacht haben.
Die Bühne des Sprechtheaters basiert ihrer Natur nach auf einem Weltgefühl, das bewusst den Menschen in die
Mitte der Welt rückt. Auf der Bühne des 21. Jahrhunderts finden wir nun veränderte Kräfteverhältnisse vor,
eine neue Dynamik von Wesen, Geistern, Maschinen, Körpern und Objekten. Die Dinge, die wir einmal erfunden
haben, um Identität auf der Bühne entstehen zu lassen, sie greifen nicht mehr. Das Subjekt, ist es heute
überhaupt noch ein Thema? Susanne Kennedy sagt nein. Ihr Theater aus Replikanten und Doppelgängern saust
auf uns zu wie ein Gruß aus der Zukunft.
Die Körper-Bilder, die uns erreichen, veranschaulichen, wie gefährdet die Menschen und wie verletzlich
unsere Städte sind. Die Zeltcamps an den Grenzen, der Terror in den Straßen, die Proteste auf den Plätzen
vor den Machtzentren – der Körper, der geflüchtete, der versehrte, der aufständische Körper rückt wieder
in den Mittelpunkt des politischen Feldes. Über alle Sprachgrenzen hinweg sind seine Zeichen und
Botschaften universell verständlich. Wie reagieren Künstler auf diese Entwicklungen? Boris Charmatz
sieht seine Kraft in der guerillartigen Schnelligkeit. In Danse de nuit weiß man nie genau, was man
gerade erlebt: Ist es ein Straßenkampf, ein Terroranschlag oder ein Totentanz?
Das Museum tanzt, der Tanz spricht, das Schauspiel verdoppelt sein Bild auf der Leinwand, das Kino
betritt den Bühnenraum. Die Künstlerinnen und Künstler führen uns an Stellen, an denen wir merken,
dass es anders weitergeht. Sie betrachten ihre Disziplinen nicht mehr als einzelne, getrennte Sparten,
sondern sind elektrisiert von ihrem zeitlichen und räumlichen Neben- und Miteinander. Was passiert,
wenn unsere normale, welthafte, auf Objekte zugeschnittenen Sprache auf neue Formen künstlerischen
Sprechens trifft? Tino Sehgal oder Mette Ingvartsen zeigen, dass Bewegungen und Berührungen ebenso
sinnvolle Weisen des gedanklichen Verhandelns sein können. Ihre Namen dürfen nicht fehlen, wo es um
das Politische in der Kunst geht.
Sprechtheater versus Performance, Tanz versus Schauspiel, Vergangenheit versus Zukunft, Tradition
versus Avantgarde - in diesen Oppositionen zu denken – uns ist das nicht nur fremd, es kommt uns
geradezu unsinnig vor. Wir müssen uns fragen: Für was öffnen, vor was verschließen wir uns? Erleben
wir uns als Deutsche, Europäer oder Kosmopoliten? Welche Rolle können die Theater übernehmen, wenn
es um die Kunst der Zukunft geht? Seit über 100 Jahren ist die Volksbühne auf die Wirkung und
Entwicklung neuer Regieformen angelegt. Im Laufe ihrer Geschichte hat sie Theater, Tanz, Bildende
Kunst, Musik und Film unter ihrem Dach versammelt. Mit seismografischem Gespür für Spannungen,
für neue Strömungen und Verbindungen hat sie einer jeweils nächsten, spekulativen Avantgarde den
Weg bereitet. Das ist ihre Tradition, das ist unser Auftrag.
Wir haben Künstler eingeladen, deren Geist wir uns als Membran vorstellen müssen, durchlässig
für verschiedene Sprachen und Medien arbeiten sie an überraschenden Definitionen, ertasten
Genauigkeit und neue Formen und proben die Belebung des Gemeinsamen. Mit ihnen möchten wir den
Blick auf die Diversität unserer künstlerischen und kulturellen Formen lenken. Ihre Vielfalt
zeigt uns, was wir bisher erreicht haben, nämlich eine Zunahme an Differenziertheit. Diese
gewonnene Differenziertheit ist auch das Ergebnis von Institutionen und Verabredungen, die
in den letzten Jahrhunderten verankert wurden. Man sollte deshalb vorsichtig sein, wenn man
unseren Neuanfang als eine feindliche Übernahme kennzeichnet. Das Gegenteil könnte der Fall sein.
Dem permanent Temporären, dem Experimentellen und Exzentrischen, dem Fremden und Ausgegrenzten,
dem was plötzlich von Brüchigkeit ergriffen wird, sein Dasein als Haus, als Institution
anzubieten, darin liegt die Stärke und Bindungskraft des Theaters. Daraus werden neue
formale Argumente erwachsen. Wir brauchen diese Räume, damit die Kunst ihre eigenen
Werkzeuge in den Blick nehmen kann. Die Form gehört zum Schönsten was sich der Mensch
erarbeitet hat. Doch wir riskieren das Sprechen über Kunst, das sprechen über
Wahrnehmungsformen zu verlernen, wenn wir uns weiter dem Spektakel von Konzepten,
Themen und Tagespolitik überlassen.
Wir möchte uns bedanken bei allen, die nachhaltig in Feindbilder, Drohformeln,
Angstlandschaften, die in das öffentliche Drama der Skepsis investiert haben. Sie
haben dazu beigetragen, unsere Idee von Freiheit zu schärfen. Sie haben dazu beigetragen,
uns mit dem Theater, mit seiner Geschichte, mit den Menschen, die hier arbeiten und leben,
auf eine Weise in Berührung zu bringen, die außergewöhnlich ist. Außergewöhnlich zornig,
skeptisch, widerständig und außergewöhnlich zärtlich, zugewandt, behutsam, verletzbar.
So wie Menschen eben auf Fremde zugehen, wenn sie das Gefühl haben, ihnen wird das Dach
über dem Kopf weggerissen. So wie Liebende sich einander nähern, die wissen was auf dem
Spiel steht. In beiden Fällen kommt ein Selbstbewusstsein zum Zuge, das Alexander Kluge
einmal als den Anti-Realismus des Gefühls beschrieben hat. Ohne diesen Anti-Realismus
gäbe es kein Theater, keine Kunst, kein Menschsein. Die Volksbühne ist eine der letzten
Wunderkammern unserer Gesellschaft, in der sich Kunst, Wissen, Handwerk und Aberglaube
begegnen. Sie ist eine Spielstätte für unsere Ausreden vor der Welt. Das kann die Utopie
von einem neuen Theater sein, der Grundriss zu einer idealen Stadt, der satirische
Entwurf einer weiblichen Weltherrschaft oder das Erwachen der nächsten Generation, der Generation unserer Kinder.
Was in diesem Buch versammelt ist, ist das was wir lieben, wovon wir träumen, was
uns magisch anzieht, was uns befremdet, was wir mit Begriffen nicht zu fassen
kriegen, was uns wichtig ist und was wir für wichtig halten. Freuen Sie sich
mit uns auf die Künstlerinnen und Künstler, sie sind im Begriff ihre ästhetischen
und formalen Argumente zu schärfen, um dem Theater neue Möglichkeiten und
Erfahrungsräume aufzuzeigen. Ihre Aufführungen, Filme, Bilder, Partituren und Räume,
sie werden die Fenster weit aufstoßen, um die Fragen zu verhandeln, um die es in der Welt des 21. Jahrhunderts geht.
mp