e.l.kirchner: „tanz im varieté“ – seit 100 jahren gilt es als verschollen.
sein wiederauftauchen ist eine sensation.
foto: e.l.kirchner, 1920, © kirchner museum davos
märz 2024
münchen, ketterer kunst
ernst ludwig kirchner
tanz im varieté, 1911
essay
Hätte er später gelebt, hätte er womöglich auch das Tanzwunder Michael Jackson gemalt. Der Künstler Ernst Ludwig Kirchner,
der mit großem Vergnügen in den Zirkus ging, das Varieté liebte, Gret Palucca und Mary Wigman in ihren Studios besuchte,
sich von Josefine Bakers „Revue Nègre“ in Berlin erzählen ließ, war verrückt nach Tanz, nach begnadeten Körpern und nach
Schwarzen Modellen.
Das Gemälde „Tanz im Varieté“ hat nahezu 100 Jahre buchstäblich im Hintergrund der Kunstgeschichte auf seinen Auftritt gewartet.
Zum letzten Mal ausgestellt wird „Tanz im Varieté“ Ende 1923 bei Paul Cassirer in Berlin. Danach verlieren sich seine Spuren.
Das Bild verschwindet aus der Öffentlichkeit. Seit 100 Jahren gilt es als verschollen. Sein Wiederauftauchen ist eine Sensation.
„Tanz im Varieté“ ist von raumgreifendem Charisma. Es ist eine Hommage an das goldene Zeitalter der Unterhaltungskünstler, die vor dem
Ersten Weltkrieg mit ihren Showtänzen das Publikum in Ekstase versetzen. Das Gemälde zählt zu den letzten Werken, die in Dresden zum
Motivkreis Zirkus und Varieté entstehen, bevor Ernst Ludwig Kirchner sich in Berlin dem Theater der Straße zuwendet.
Was sehen wir? Kirchner schildert, was in den Metropolen Europas ab 1900 den Nerv der Zeit trifft und auf den Tanzflächen einen
regelrechten Hype auslöst. Vorn, im Scheinwerferkegel, sehen wir eine Cakewalk-Szene zwischen einem Schwarzen Tänzer und einer
weißen Tänzerin, eingefasst von einer Gruppe weiterer Tänzerinnen und Tänzer. Der Kontrast zwischen dunkler und heller Haut ist
deutlich markiert. Die Wurzeln des populären Tanzes lassen sich bis in die Sklavenzeit zurückverfolgen. Ursprünglich waren es
Afroamerikaner, die in Tanzwettbewerben die Tänze der weißen Herrschaft lächerlich machten.
Die Moderne kommt auf der Bühne und auf der Straße zur Welt. Hier werden neue Körperbilder, Rollen und Bewegungskulturen verhandelt.
Zeichnend und malend setzt Kirchner die gesellschaftlichen und kulturellen Umwälzungen in Szene. Seine Bilder sind Gegenwartsbeschreibungen.
Sie sensibilisieren geradezu modellhaft für die soziale Schieflage seiner Figuren. Kirchner lässt sie darstellen, wie aussichtslos
die Glücksversprechungen einer Gesellschaft sind, in der an den Körpern schon die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns ablesbar ist.
Die Intensität der expressionistischen Malerei ist eng verbunden mit der Fähigkeit, Gleiches und Ungleiches zusammenzuführen.
Das Durchmischte und Hybride gehört geradezu zum Werkbegriff der „Brücke“-Künstler am Vorabend des Ersten Weltkriegs.
Er sensibilisiert geradezu modellhaft für den loopartigen Austausch von bis dahin ungekannten, abstrakten Formen zwischen Europa,
Afrika und den USA, die sich – zunehmend untrennbar – zu verweben und zu verflechten beginnen. Kirchners Blick für kinetisch
überbegabte Temperamente führt uns über die Geschichte des Tanzes vor Augen, wie neue Expressionismen in der Kunst aus
Begegnungen und Beziehungen zwischen den Kulturen entstehen.