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anne teresa de keersmaeker, work/travail/arbeid
© Anne Van Aerschot


london, brüssel, venedig, mai 2015
„walk in, work it, move on, hands up, come together!“
choreografen bringen in museen die verhältnisse zum tanzen
zwischen partizipation, party und choreografischem protokoll



Was wäre, wenn die Londoner Tate Modern ein Museum für Tanz wäre? Was wäre, wenn die Besucher des Brüsseler Kunstzentrums WIELS nicht nur auf Bilder und Objekte, sondern auf Tänzer und Musiker träfen? Im Frühjahr 2015 verwandeln der französische Choreograf Boris Charmatz und die belgische Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker zwei klassische Kunstmuseen in einen dance floor und eine begehbare Installation. Ausgestellt werden Bewegungen, Gesten und Klänge. Durch die bloße Anwesenheit ihrer Körper in den Räumen eines Museums zeichnen die Tänzer und Musiker das Bild einer Welt, in der Tanz und Choreografie unser Wertesystem inspirieren: Ist die Obsession für Objekte, für materielle Werte an ihr Ende gekommen? Was kann eine Gesellschaft von ihren Choreografen lernen? Wie reagieren wir auf ihre Gedankenwelt? Welche Aufgabe hat ein Museum in einer Gesellschaft?

Boris Charmatz und Anne Teresa de Keersmaeker entwickelten „Levée des conflits“, „manger“ und „Vortex Temporum“ ursprünglich für die Bühne bevor sie die Choreografien für die Parameter eines Museums adaptierten und so neue Architekturen der Aufmerksamkeit schufen: Die Besucher können kommen und gehen, sie können aus der Performance oder Installation aussteigen, sie können sie umkreisen und mit Distanz betrachten, sie können teilnehmen (wie in der Tate Modern) oder nach ein paar Wochen (wie in Wiels) zurückkommen, um zu überprüfen, was sich in ihrer Abwesenheit verändert hat. Die Besucher eines Museums können (und das unterscheidet sie von klassischen Theaterzuschauer) Position und Perspektive wechseln. Es entstehen überraschende Situationen und Parcoure, die ermöglichen, die Zeit selbst zu gestalten. Der Tanz des 21. Jahrhunderts ist plötzlich nicht mehr nur eine Frage von Struktur und Form, sondern auch eine Frage der Verantwortung und Teilhabe. Wo ist mein Standort? Was kann ich tun?

Die choreografische Aktivierung von Museumsräumen baut auf der kritischen Theorie und den Vermächtnissen der klassischen Avantgarde und Live-Art der 80er Jahre auf. Live-Art ist eine immaterielle Kunst, die sich auf einige wenige Mittel besinnt: Raum, Bewegung, Stimme. Die Künstler inspirierten sich an der Bildenden Kunst und experimentellen Theater- und Tanzformen. Ihre Werke changierten zwischen Aktionismus, kritischem Diskurs und Alltagkultur. Diese erste Generation machte zunächst die Galerie oder den Stadtraum zur Bühne. Institutionskritik, Feminismus, Kapitalismus, politischer Aktivismus gehörten zu ihren wichtigsten Themen. Künstlerinnen wie Valie Export, Marina Abramovic und Andrea Fraser stellten sich in ihren Interventionen häufig selbst als Protagonistinnen und als Projektionsfläche für ihre soziokulturellen Analysen zur Verfügung. Ihr Gestus war so wegweisend wie subversiv, die Schauplätze lagen (noch!)in den Nischen des öffentlichen Raums. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts haben sich Einfluss und Marktwert von Live-Art und Performancekunst auf bemerkenswerte Art und Weise verändert. Inzwischen haben sie Event-Charakter. Sie ziehen ein Massenpublikum an. Sie werden von großen Museen, einflussreichen Sammlern oder internationalen Biennalen und Festivals realisiert. Die Künstler drängen mit ihrer Kritik an den Dynamiken des Marktes und an der Schwerkraft der Institutionen in die inneren Betriebssysteme der Museen. Dem Kunstwerk als Konsumobjekt setzen sie Prozesse, flüchtige Handlungen und soziale Choreographien entgegen. Diese Entwicklung verläuft parallel zu dem grundlegenden Funktionswandel, den das zeitgenössische Museum mit Ende des 20. und Beginn des 21. Jahrhunderts erlebte. Von einem Ort der Sammlung, Archivierung und Präsentation entwickelte es sich immer stärker zu einem interaktiven, dynamischen Labor für Phänomene und Konflikte der Gegenwart. In neuen Museumsarchitekturen hat dieser Wandel in Form von modulablen Bühnen, Werkstätten, Education-Räumen, offenen Bibliotheken und Auditorien für Lectures und Diskussionen Gestalt angenommen. Gleichzeitig gewinnen Live-Art und Performancekunst für die internationale Museumskultur an Bedeutung. Das MoMA, New York etabliert 2006 das Department for Media and Performance Art. 2010 öffnen die New Yorker Werkschauen von Marina Abramovic im MoMA und Tino Sehgal im Solomon R. Guggenheim Museum die immaterielle Kunst für ein breites Publikum.

Eine andere, wesentliche Quelle für die immer größer werdende Öffentlichkeit von Performances liegt in ihrer direkten Zugänglichkeit für ein nicht-spezialisiertes Publikum. Performer und Zuschauer machen eine gemeinsame ästhetische Erfahrung. Prima Materia ist nicht mehr die Sprache, sondern sind Gesten, Bewegungen, Zeichen. Aus einer für den Kunstkontext unerwarteten und unvermittelten Konfrontation ergibt sich die besondere Intensität und Qualität der Erfahrung. Selbst im Massenpublikum einer Biennale, einer documenta, eines großen Museums oder einer Kunstmesse fühlen sich die Besucher nicht als Masse angesprochen, sondern als Einzelne.

RoseLee Goldberg, Gründerin und künstlerische Leiterin der New Yorker Biennale „performa“, sieht in der Perfomancekunst „in vieler Hinsicht das Medium des 21. Jahrhunderts. Simultanität ist die Ästhetik unserer Zeit. Die Performancekunst ist das Instrument, mit dem der Künstler unsere Welt simultan übersetzen kann.“ Künstlerinnen und Künstler wie Andrea Fraser, Allora & Calzadilla, Tino Sehgal, Roman Ondak oder Olaf Nicolai, der für die diesjährige Biennale das Dach des Deutschen Pavillon zur Bühne machte, gehören zu einer Generation global arbeitender Künstler, die mit offensiver Bescheidenheit an neuen, zeitgenössischen Formen künstlerischen Handelns arbeiten. Auf intelligente Art und Weise bringen sie die Verhältnisse zum Tanzen: zwischen Kunst und Markt, Raum und Zeit, Mann und Frau, Geist und Materie. Mit ihren minimalistischen Aktionen haben sie universell verständliche Präsentations- und Rezeptionscodes entwickelt, die sich in ihrer sinnlichen Unmittelbarkeit auf den ersten Blick quer stellen zu den Usancen der digitalen Gesellschaft. Auf den zweiten Blick haben sie damit für das permanent Temporäre ihrer Arbeitsverhältnisse eine kongeniale, weil ebenso fluide Ausdrucksform gefunden. Für die Biennale entwickelte Olaf Nicolai eine schönes, choreografisches Bild. Er konzentriert den Blick der Besucher auf das Dach des Deutschen Pavillons, wo er eine unsichtbare Werkstatt einrichtete, die Bumerangs herstellt. Von Zeit zu Zeit sieht man Figuren an den Rand des Daches treten und einen Bumerang in den Himmel über Venedig schleudern. Eine exponierte, elegante Geste, die unserer Aufmerksamkeit eine neue Richtung gibt, sie ins Imaginäre lenkt, bevor sie sich den Blicken wieder entzieht.

Die Choreografen, die Aufführungen zu Ausstellungen und das Museum zur Bühne machen, sprechen eine Einladung an das Kollektiv aus, sich im Hier und Jetzt, zur gleichen Zeit im gleichen Raum zu treffen. Doch anders als die Künstler der früheren Live-Art-Avantgarden treten sie nicht mehr als Protagonisten in Erscheinung. Der Choreograf spielt keine dominante Rolle mehr, er wird zum Teil einer Landschaft auf der er ein breites Publikums zu Partizipation und Party nach choreografischem Protokoll aktiviert. Neben den virtuellen Netzwerken, den 20.00-Uhr-Nachrichten und großen Sportereignissen hat der zeitgenössische Tanz sein Potential entdeckt, große Gemeinschaften und Gesellschaften zu koordinieren und neue mentale Räume zu eröffnen - für die Kunst, das Publikum und die Stadt des 21. Jahrhunderts. Dabei setzt er dem Digitalen das Körperliche entgegen, der formalen Kontrolle die sinnliche Erfahrung, dem klassischen Schönen die Atmosphäre: Walk in, work it, move on, hands up, come together!

Die Verwandlung von Museen in choreografische Landschaften charakterisiert eine neue Form ritueller Kunstereignisse. Auf die wichtige Frage, wie es einer Gesellschaft, die auf Flexibilisierung ausgerichtet ist, gelingen kann Bindungsmomente, Verbindungen und Verbindlichkeit herzustellen, geben sie eine überzeugende Antwort: Das gemeinsame Zelebrieren von Kunst – und darin mag der nachhaltige Sinn dieser temporären Interventionen liegen - ist für eine moderne Gesellschaft das Ritual par excellence, um ihre Identität über Wandel und Transformation zu definieren.

Boris Charmatz: If Tate Modern was Musée de la danse. 15.-16. Mai 2015, Tate Modern, London. Kuratorin: Catherine Wood
Anne Teresa de Keersmaeker: Work/Travail/Arbeid. Kunstzentrum WIELS, Brüssel. 20.03.-17.05.2015. Kuratorin: Elena Filipovic
Olaf Nicolai: GIRO, Deutscher Pavillon, La Biennale di Venezia, bis 22. November 2015. Kurator: Florian Ebner


walk in, work it, move on, come together! In: Jahresbericht, Bundesverband Freier Theater, Berlin 2015