berlin, 24. april 2015
„volksbühne berlin: kollaboration als modell“
chris dercon, marietta piekenbrock
Der Plan
Die volksbühne berlin versammelt unter einem Dach Theater, Tanz,
Performance, Konzert, Kino, Bildende Kunst und Kulturen des
Digitalen. Die volksbühne berlin aktualisiert das historische
Konzept der Bauhausbühne, einem der wichtigsten Projekte der
Theatermoderne. Schauspieler, Tänzer und Künstler anderer
Disziplinen machen die Bühne zum zentralen Ort und Bezugspunkt
für ihre Experimente und Rauminszenierungen.
Die volksbühne berlin schafft eine programmatische Achse
zwischen den zukünftigen Strategieräumen Mitte und Tempelhofer
Feld/ Neukölln. Gleichzeitig verbindet die neue urbane Konstellation
die Architekturentwürfe der frühen Moderne von Poelzig, Kaufmann und
Sagebiel mit den fluiden Architekturen der digitalen Medien. Dabei soll die wechselvolle
Geschichte der Spielorte als Kulturerbe respektiert und anwesend bleiben. Ihre historischen,
bis heute aktuellen Bezeichnungen werden deshalb nicht überschrieben, sondern übernommen.
Die volksbühne berlin sind: die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, der Prater,
ein Hangar
auf dem Flughafen Tempelhof, die neue digitale Bühne Terminal Plus sowie als
Kooperationspartner das Kino Babylon.
Bühnen und Räume
VOLKSBÜHNE AM ROSA-LUXEMBURG-PLATZ,Linienstraße,
erbaut 1913/14, Architekt: Oskar Kaufmann; Zuschauerplätze:
800. Max Reinhardt, Erwin Piscator, Benno Besson, Heiner Müller,
Frank Castorf, Matthias Lilienthal, Christoph Schlingensief,
René Pollesch – die Volksbühne ist geprägt von starken Regie-, Autoren- und Künstlerpersönlichkeiten,
die die Grenzen des Theatralischen unablässig neu vermessen haben. Das Ende der Ära Castorf fällt
mit einem Epochenwechsel zusammen, der die darstellenden Künste mit neuen globalen Themen
konfrontiert und in digitale Medien expandieren läßt. Im Zentrum stehen Eigenproduktionen
in den Bereichen Theater und Tanz. Der Rote und Grüne Salon werden weiterhin als Bühne und
Diskussionsraum genutzt.
PRATER, Kastanienallee, gegründet 1837, Zuschauerplätze: 200 (tbc). Die ehemalige
Nebenspielstätte der Volksbühne im populären Prater-Garten steht nach Renovierung und temporärer
Zwischennutzung durch das Theater an der Parkaue ab Ende 2018 wieder zur freien Verfügung. Die
Bühne und das open air-Podium im Prater-Garten werden zur experimentellen Plattform, zum Produktionsort
und Motor für aktuelle Entwicklungen im Bereich von Tanz und Performance.
HANGAR, Flughafen Tempelhof, erbaut nach den Entwürfen von Ernst Sagebiel, ca. 4000 qm;
Zuschauerkapazität je nach Veranstaltung bis zu 2000. Der Gegensatz von nationalsozialistischem Pathos,
sichtbar noch an der Front der Eingangshalle, und den innovativen Raumprogrammen macht die Besonderheit
des Tempelhofer Areals aus. Neben der urbanen Bühnentopografie in Berlin Mitte sind die Hangars mit
ihren modularen Raumeinheiten eine kongeniale Ergänzung. Ihr roher, industrieller Charakter, die große
unverbaute Fläche und die Hallenhöhe bieten einen flexiblen Rahmen für experimentelle Ausstellungsformate.
Großräumige Theater- und Tanzaufführungen, Performances und Konzerte finden hier Raum und Bühne.
Deckenhohe Schiebetore ermöglichen, den Außenraum mit dem angrenzenden Betonfeld visuell und szenisch
zu integrieren.
TERMINAL PLUS ist die digitale Bühne der volksbühne berlin. Rollenmodell für dieses Pilotprojekt
sind die von Alexander Kluge konzipierte, unabhängige TV-Plattform dtpc und der Performance Room BMW Tate
Live Journey der Tate Modern, London. Terminal Plus produziert, präsentiert, archiviert und streamt
Life-Performances, Filme und Gespräche. Die Künstler sind eingeladen, mit den künstlerischen
Herausforderungen und Eigengesetzlichkeiten der digitalen Bühne zu experimentieren.
Die Studiobühne in der Volksbühne wird transformiert in ein www-studio, wo aufgezeichnet
und live gesendet werden.
BABYLON, Rose-Luxemburg-Str., erbaut 1929, Architekt: Hans Poelzig; 3 Kinosäle,
Zuschauerplätze: je nach Saal: 468, 70, 37. Die Idee vom „Film als Kunstgattung“ war in der
wechselvollen Geschichte des Kino von prägender Bedeutung. Bereits Max Reinhard und Erwin Piscator
haben sich von diesem Gedanken leiten lassen. Das Film- und Videoprogramm der volksbühne berlin will
an den historischen Ruf des Babylon als das interessanteste Programmkino Ost-Berlins für Experimental-,
Dokumentar- und Kurzfilme anknüpfen. In Zusammenarbeit mit der Programmleitung des Babylon soll eine
Kooperationslinie entwickelt werden, die Filmautoren ins Zentrum rücken, die den Dialog mit den
darstellenden Künsten und bildenden Künsten suchen.
theater und tanz als lebensform
Formen des Theatralischen haben ihr Spektrum erweitert, sie stellen heute eine
realgesellschaftliche (häufig manipulative) Macht dar. Wir sprechen von einer
Theatralisierung des Alltags und der Politik, von einer Inszenierung des öffentlichen
Raums, einer Inszenierung von Macht, Erfolg und Biografien, dem szenischen Charakter von
Waren oder Nachrichten. Doch der Ursprung des Theaters liegt nicht im Effekt. Sein Ursprung
liegt im Agon, in der Rede und Gegenrede, im Dialog gegensätzlicher Standpunkte. In dieser
Fähigkeit zur öffentlichen Widerrede als eine besondere Form entfalteter Kommunikation nahm die
neue Lebensform der antiken Polis Gestalt an. Daran will die Volksbühne erinnern: Theater erzeugt
ein Unbehagen an der Kultur des liberalen Konsenses. Theater ist eine Einladung an das Kollektiv,
sich im Hier und Jetzt zu versammeln und die öffentliche Sphäre zum
Schauplatz künstlerischen Gegenhandelns zu machen. Es ist die Metapher par excellence für das
Prinzip des produktiven Konflikts. Diese Gedanken treffen keineswegs isoliert auf das Theater zu.
Auch im zeitgenössischen Tanz werden sie sichtbar. Choreografinnen und Choreografen brechen
Formen und Formate auf, um den Körper aus seinen Schemata, Grammatiken und Routinen zu lösen.
Wenn wir heute von Tanz sprechen, dann sprechen wir von Tanz als Frage, als Dissens, als Revolte,
als Protest oder als Philosophie
ausstellungen als theater
Auch das Format der Ausstellung hat in den letzten Jahren starke Wandlungen erlebt und an
Bedeutung gewonnen – als Medium und als Ritual. Zahlreiche zeitgenössische Künstlerinnen und
Künstler machen das Museum zur Bühne und suchen den Dialog mit der Architektur oder mit
vorgefundenen Situationen. Performances, Choreografien, Sound, Projektionen und Artefakte
prägen ihre Parcours. Sie überlassen den Besucher seinem eigenen Rhythmus und neuen
Wahrnehmungserfahrungen. Der Tempelhofer Hangar bietet diesem neuen Präsentationstypus
einen flexiblen Rahmen und die Möglichkeit, zeitgenössische Kunstformen für ein breites
Publikum zu öffnen.
internet als bühne
Das Internet ist zum Kaufhaus geworden, Bürger werden vornehmlich als Kunden und Konsumenten
angesprochen. Es ist Zeit, sich neuen Fragen zu stellen: Haben wir nicht ein anderes
Internet verdient? Welche Gestaltungskraft, welche künstlerischen Gegenstrategien stecken
in der digitalen Kultur? Welche Spielräume eröffnet das Internet für die darstellenden Künste?
Welche Vorteile gewährt ein digitaler Raum, der unter dem Schutz und Einfluss einer unabhängigen,
nicht-kommerziellen Institution steht? Der Terminal Plus ist die digitale Bühne der volksbühne berlin.
Überall dort wo es eine Internetverbindung gibt, können Zuschauer die volksbühne berlin besuchen.
Das neue Web-Podium ist die zeitgenössische Version eines Globe Theatre: für alle zugänglich,
radikal global, reflexiv, interdisziplinär, unabhängig, interkulturell, interaktiv und hochproduktiv.
künstlerinnen und künstler
Wir sind mit zahlreichen Künstlern und Partnern im Gespräch. Für den Anfang laden wir
fünf internationale Künstlerinnen und Künstler ein, an der volksbühne berlin zu inszenieren,
zu choreografieren, zu filmen und über neue Arbeits-, Produktions- und Präsentationsstrukturen
nachzudenken. Die deutsche Theaterregisseurin Susanne Kennedy, die in Brüssel lebende dänische
Choreografin Mette Ingvartsen, der französische Choreograf Boris Charmatz, den in Berlin lebenden,
französischen Filmregisseur und Produzenten Romuald Karmakar und den Münchner Filmemacher und
Autor Alexander Kluge. Mit Boris Charmatz, Romuald Karmakar und Alexander Kluge verbindet uns
eine intensive, zum Teil langjährige Zusammenarbeit. Susanne Kennedy und Mette Ingvartsen
sind zwei junge Künstlerinnen, von deren Inszenierungen wichtige Fragen und Formen der
Erneuerung ausgehen. Die Arbeiten der genannten Künstler sind signifikante Setzungen,
die sich in ihrer Unabhängigkeit gegenseitig beleuchten. Ihr Zusammenwirken, das Kreuzen
ihrer Formen, ihre Konstellation ist eine erste Positionsbestimmung, in der wir unsere Idee
von einer Volksbühne als Modell für ein internationales Theater des
21. Jahrhunderts gespiegelt sehen.
kollaboration und partizipation: modell für eine nachhaltige kulturpraxis
Was wir längst wissen: Kein Theater, kein Museum, kein Intendant kann Kollisionen von
Wertevorstellungen und ungleiche Sozialverhältnisse im Alleingang moderieren oder gar bekämpfen.
Der Soziologe Ulrich Beck hat uns ein schönes, handlungsweisendes Vermächtnis hinterlassen: Neue
Lösungsansätze unterstellte er in seinen letzten Vorträgen und Texten dem ethischen Imperativ des
„Kooperieren oder scheitern!“ Übertragen auf die Sphäre der Kunst und Kultur bedeutet das,
grenzübergreifend zu denken und komplizenhaft zu handeln: Zu eng wurde bisher in Sparten,
Stadtbezirken, Zuschauermilieus, Disziplinen und Hierarchien gedacht. Solidarität,
Komplizenschaft und Kollaboration sind nicht nur Vernunftsideen oder moralphilosophische
Versprechen, sie sind eine Praxis, die in die Wirklichkeit unserer Städte einwandert.
In einer immer komplexerwerdenden Welt, in der sich niemand mehr wirklich auszukennen vermag,
sehnen sich Menschen nach Zugehörigkeit. Viele zeitgenössische Künstler entwerfen Szenarien,
Environments, Choreografien und Installationen, in denen die Besucher sich begegnen können.
Immer mehr Arbeiten entstehen sogar erst im Dialog mit dem Publikum. Man muss die Werke dieser
Künstler nicht mehr besitzen oder dauerhaft ausstellen. Es genügt, sich an die Begegnung zu
erinnern oder sich ganz einfach mit ihren Ideen verbunden zu fühlen. Das gemeinsame Zelebrieren
von Kunst und Inspiration wird immer wichtiger als Besitz.
An die Stelle des pädagogischen Imperativs „mehr kulturelle Bildung und Vermittlung!“
treten Begegnung, Erfahrung, Austausch, Forschung und Ermittlung. Zuschauer und Besucher
sind nicht an einfachen Antworten interessiert, sondern an Fragen, die sich erst in sozialen
Situationen stellen und sich auch nur hier beantworten lassen: Was kann, wenn Ressourcen knapp
werden, eine lebenswichtige Erfahrung sein? Was bedeutet Kooperation? Was bedeutet es,
ein Mitglied zu sein? Welche Kraft hat ein Ensemble? Welche Spielregeln respektieren,
welche übertreten wir besser? Der Bezugspunkt ist nicht mehr eine gemeinsame
Herkunftssprache (Deutsch) oder der Nationalstaat (Deutschland), sondern eine Vielfalt
an Sprachen und eine kosmopolitische Gesellschaft. Mit dem Abbau von Grenzen und Gesten
der Exklusion öffnen sich neue mentale Räume für indirekte Effekte wie Nachhaltigkeit,
Erfahrung und Solidarität.
„Die Kunst dem Volke“ - diese emphatische Gründungsformel der Volksbühne, mit der es
gelungen war, Teilhabe für ein breites Publikum zu organisieren, und die Idee des
Avantgardisten Erwin Piscator von einem genresprengenden „Totaltheater“ sollen wegweisend
bleiben für das Programm der volksbühne berlin.