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Ursula Kaufmann, Julia Häusermann in Jérôme Bel: Disabled Theater

tumbletalks: boris charmatz, william forsythe, museum folkwang, Essen 2013

essen, 24.august 2013
tumbletalks 1
william forsythe/ boris charmatz
künstlergespräch



Gespräche sind Kooperationen zwischen Subjekten. In einem Festival haben sie eine schöne, poetische Funktion. Gespräche mit Künstlern sind ein Mittel, uns fremde Erfahrung oder Wirklichkeit nahzubringen. Eine Konversation kann bloße Spiegelscherbe sein, ein Ausschnitt des Kunstwerks oder sie lässt uns über einen neu gebauten Blickwinkel die Konflikte und Kräfteverhältnisse unserer modernen Gesellschaft anders sehen.

Komponist Helmut Lachenmann bemerkte einmal, dass das Problem gelungener Kommunikation weniger darin bestehen würde, eine gemeinsame Sprache zu finden, als vielmehr die gewohnten Spielregeln auszusperren. Die tumbletalks (engl. to tumble: stürzen, rotieren, etw. durcheinander bringen) beginnen genau da, wo eine Talkshow vermutlich ins Leere laufen würde: Am Nullpunkt der Kommunikation. Ein gutes Gespräch über Kunst entwickeln, bedeutet hier: ein Podium zu betreten und eine milde Anarchie zu pflegen. Es gibt kein Thema, kein Ziel,keine eingespielten Fragen und Antworten, keine Interpretation, keinen Mitschnitt, kein Netz und doppelten Boden. Die einzige Spielregel, die greifbar bleibt, ist so alt wie die Geschichte des Theaters selbst. Gemeint ist die Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Die tumbletalks sind öffentliches Denken und geschlossenes (Mini)Drama im selben Moment. Auf den ersten Blick mögen sie anachronistisch sein (zwei Menschen vertieft in ein Gespräch), auf den zweiten handeln sie vom Hier und Jetzt (es geht um neue Kunstformen in einer globalisierten Welt). Künstler und Kollektive wie William Forsythe, Boris Charmatz, Rimini Protokoll, Dan Perjovschi, Mischa Kuball, Adam Curtis, Ryoji Ikeda oder Heiner Goebbels eröffnen in diesem Jahr neue Zonen des Theatralischen, die sich oftmals an den Gegebenheiten der architektonischen Umgebung orientieren. Das kann eine Industriehalle sein, ein Museum, ein Foyer, ein Vorplatz oder der Gipfel einer Halde. Ohne den üblichen Respektabstand kann sich der Zuschauer aktiv und explorativ mit einem Amalgam aus Performance, Choreografie, Skulptur, Video, Klang, Licht oder Zeichnung auseinandersetzen. Es entstehen Räume und Parcoure, die es dem Publikum ermöglichen, die Zeit, die es im Theater verbringt, selbst zu gestalten. Der Zuschauer kann kommen und gehen, er kann aus der Performance oder Installation aussteigen, er kann sie umkreisen und mit Distanz betrachten, er kann wieder zurückkommen und entdecken, was sich während seiner Abwesenheit möglicherweise verändert hat. Kurzum, er kann Position und Perspektive wechseln und an der permanenten Neuschöpfung des Werks mitwirken. Das Theater des 21. Jahrhunderts wird hier nicht nur zu einer Frage von Inhalt und Form, sondern auch zu einer Frage der Verantwortung. Wo ist mein Standort? Was kann ich tun?

In den tumbletalks ist alles erlaubt, was spontan und unplugged möglich ist: intellektueller Jazz, Schweigen vor Publikum, Künstler in Aktion. Video trifft auf Audio, Medienkunst auf Industrieraum, ein Zwillingspaar auf ein Streichquartett, Hans Christian Andersen auf Gudrun Ensslin und der Zuschauer auf Stifters Dinge.