Decorative element


Boris charmatz: enfant

Boris Charmatz: enfant. © Boris Brussey

17. August 2012
Ruhrtriennale 2012: No Education

„Georges Pompidou oder Warum es nicht immer wichtig ist,
zu wissen wo das Nature Theatre of Oklahoma liegt“

Am Anfang war ein Film. Ein Film von Marguerite Duras. Er heißt Les Enfants – Die Kinder. Ich entdeckte ihn in Paris, als er Ende der 1980er Jahre im Entrepôt lief, einem kleinen Programmkino im xv Arrondissement. Wie die meisten Bücher und Filme der Duras handelt auch Les Enfants von einer Liebesgeschichte, die sie zwanzig Jahre nach der Entstehung des Films zu einem Buch verarbeitet hat: Les pluies d’été – Sommerregen. Es geht um eine kinderreiche Einwandererfamilie aus der Banlieue, um Vater, Mutter und ihre sieben Kinder, die einander lieben. Sie halten zusammen und wahren Distanz. Die Eltern sammeln die Bücher, die sie in Vorortzügen und neben Mülltonnen finden. Am liebsten lesen sie Biografien berühmter Menschen, besonders begeistert sie das Leben von Georges Pompidou. Der Vater findet sich im Leben Georges Pompidous wieder, die Mutter in dem seiner Frau: »Das waren Existenzen, die nicht fremd waren.« Im Mittelpunkt der Erzählung steht der Junge Ernesto. Zehn Tage geht er in die Schule, dann kommt er zurück nach Hause und erklärt, er werde nicht mehr in die Schule gehen. Dort lerne man Dinge, die man noch nicht weiß. Auch seine Geschwister verweigern die Schule, sie bleiben Analphabeten. Ernesto weist zwar alles Wissen zurück und doch er kennt die Mysterien der Welt. Auf einmal kann er lesen, er kennt sich aus in Chemie und besucht bald die Universitäten. Er ist ein Genie. In einer Notiz am Ende des Buches heißt es, er sei später Professor geworden, ein glänzender Mathematikprofessor. Marguerite Duras bleibt in Film und Erzählung ihrem utopischem Marxismus treu. Die Annahme von der ›Gleichheit der Intelligenzen‹ ist ihre machtvolle Quelle für die Fantasie zu einem tragikomischen Märchen, in dem Ernesto der König ist, der König der Geschwister und der König der Analphabeten und Ausgestoßenen.

Marguerite Duras hatte die Rolle Ernestos mit dem Schauspieler Axel Bogouslavski besetzt. Ein Mann mit einem Kindergesicht. Man könnte auch sagen: Ein Junge mit dem Gesicht eines Erwachsenen. Es bietet ein faszinierendes, hintersinniges Schauspiel: Man hat den Eindruck als lebe Ernesto in einem Konglomerat von Zeiten. Nicht nur, dass dabei sein biologisches Alter mit dem Alter seines Bewusstseins durcheinander gerät, es wechselt in Sekundenschnelle die Zeiten: Ichwar- ich-bin-ich-werde! Dieses große, friedfertige Zugleich von Naivität und Weisheit, von Humor und Melancholie ist so etwas wie sein natürlicher Zustand. Vermutlich bleibt einem dieses Gesicht deshalb so in Erinnerung. Ernestos Schulverweigerung ist die Protestform einer natürlichen Intelligenz, die der Neurowissenschaftler Ernst Pöppel unser »implizites Wissen« nennt. Implizites Wissen »kennzeichnet den Experten, der ohne notwendige Reflexion und dennoch richtig handelt. Im impliziten Wissen werden unsere Intuitionen wirksam, ohne die ein Künstler, ein Wissenschaftler, ein Politiker oder ein Handwerker nicht wirken und nichts erreichen kann.« Um das Verhältnis zwischen Kunst und Kind neu abzustecken, müsste man sich diese Fülle und den Reichtum des impliziten Wissens vor Augen führen. In die Diskussionen über Vermittlungsmodelle von Kunst müsste man die Idee von einem Wissen und Können, für das wir keine Worte haben, neu zum Einsatz bringen. Wir wissen, was wir meinen, wenn wir von Kunst sprechen, aber es könnte passieren, dass wir scheitern, wenn wir versuchen, sie zu definieren oder zu erklären.

Ist es also immer wichtig zu wissen, wo das Nature Theatre of Oklahoma liegt oder wer Pina Bausch ist? Warum Tristan traurig ist? Projekte, die erziehen, fördern oder vermitteln, haben eines gemeinsam: Die Hauptquelle liegt außerhalb des kindlichen Universums. Der Vermittler gibt vor, einen Schlüssel zu einem Reich von Kenntnissen zu haben, den das Kind nicht hat. Und er neigt dazu, mit seinen Lektionen und Übungen, Kinder zu Containern zu machen für das Wissen und die Bilder, die er selbst gesammelt hat. Von Erziehungs- und Vermittlungsprojekten wird häufig Großes und Nützliches erwartet: mehr Sozialkompetenz, Ichkompetenz oder 37 Sachkompetenz. Ausgangspunkt sind Unwissenheit und Stumpfheit, und am Ende steht die Idee von einem sensiblen Kind und einer besseren Welt. Diese Art von Vermittlungsmodelle sind eine unendliche Praxis. Sie kommen nie zur Ruhe, weil sie ihren Daseinsgrund aus einer tiefen Kluft zwischen dem Wissenden und dem Unwissenden beziehen. Tauscht man dieses große Gesellschaftsprojekt von einer ästhetischen Erziehung aus gegen die Idee von Arealen für ästhetische Erfahrungen, öffnen sich neue Perspektiven und experimentelle Formen für eine Praxis des produktiven Miteinanders.

In No Education-Projekten bleibt das Kind Souverän seiner Erfahrung. Es gibt keinen Lehrer, keinen Meister, der ihm zu verstehen gibt: »Ich bin schon einen Schritt voraus!« So entgeht es dem Gefühl und der Vorstellung von Unwissen. Die Kinder lesen, träumen oder erleben etwas, was sie niemand vorher angewiesen hat, zu lesen, zu träumen oder zu erleben. Denn das Wissen über oder um Kunst ist keine Menge von Kenntnissen, ›es ist eine Positionç› – wie Jean Jacques Rancière sie beschrieben hat. Diese Position ist nichts, was man besitzen oder besetzen könnte. Es ist die Offenheit für ein Abenteuer, die sich immer wieder neu erzeugt und dabei alle Gewissheiten durcheinander wirbelt. In No Education lehren die Künstler den Kindern nicht ihr Wissen, sie ermutigen und ermächtigen sie, sich ins Dickicht der Zeichen vorzuwagen und zu erzählen, was sie erlebt haben. Das Ganze geschieht mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der Ernestos Vater sein Leben im Leben von Georges Pompidou gespiegelt sieht, und seine Mutter ihr Leben in dem seiner Frau.

Das Interesse von Künstlern an Bildwelten von Kindern und an Kindern als Sujet hat eine lange Geschichte. Die Faszination für unregulierte Spontaneität und Kontrollverlust, die Idealvorstellung von Kindheit als Utopie, die Begeisterung für das Kreatürliche und Ursprüngliche, das Interesse an der informellen Dynamik ihrer Beziehungen, an Formen von Gewalt und Aggression – all diese Aspekte machen das Thema Kind zu einer endlosen Matrix für vielfältige Motiv- und Werkgruppen. Kunstwerke, die Kinder ins Bild oder in Szene setzen, reflektieren häufig den Status des Kindes mit und ordnen

ihm Attribute zu: das heilige Kind (in der christlichen Kunst), das Kind als kleiner Erwachsener (Velasquez), das behütete und folgsame Kind (Philipp Otto Runge), das widerspenstige, grausame oder traurige Kind (Wilhelm Busch, Heinrich Hoffmann), das Straßenkind (Heinrich Zille), das behinderte Kind (Diane Airbus), das Kind als Krieger (Paul Klee), das erotische Mädchen (Balthus). Auf der Bühne hat es Ende der 90er Jahre einen Kippmoment gegeben. Regisseure und Choreografen begannen Stücke zu entwickeln von Kindern für Erwachsene. Alain Platel (Allemaal Indiaan), Tim Etchells (That Night follows Day), Stefan Kaegi und Lola Arias (Airport Kids) die Gruppe Gob Squad (Before your very Eyes), Árpád Schilling (A Papno) und Heiner Goebbels (When the mountain changed its clothing) zeigen in ihren Arbeiten, wie die Welt der Kinder und Jugendlichen von Erwachsenen entworfen und definiert wird. Sie zeigen Glücksprojektionen und Spielarten der Erwachsenenherrschaft: Erziehung, Disziplin und Fürsorge. No Education sucht nach Formen für eine andere Sichtbarkeit von Kindern und Jugendlichen auf dem Kunstfeld. Und zwar nicht nur als Akteure oder Performer, sondern auch als Kritiker und Experten, als Architekten und Bauherren, als Kunstproduzenten. Die Erkenntnisse und Erfahrungen, die sie dabei machen, entstehen nicht durch geistige Reflexion, sondern entzünden sich in der konkreten Auseinandersetzung mit der Materialität oder dem Ephemeren der Kunst: mit Körper, Stimme, Bewegung, Raum, Sound oder – ganz konkret – mit riesigen Stapeln von Holz, wie sie auf dem Vorplatz der Jahrhunderthalle Bochum für Our CenturY von Martin Kaltwasser, Folke Köbberling und über hundert Bau-Aktivisten in eine große, lebendige Skulptur verwandelt werden. Die Children’s Choice Awards stellen jeden Abend dieselbe Frage: »Wie hat Dir das Kunstwerk gefallen?«, »War es in Deinen Augen interessant oder weniger interessant?« Auf sehr direkte und sinnliche Art und Weise erlebt das Kind, dass es mächtig und wichtig ist. Es erlebt, dass die Welt der Kunst und Kultur es ernst nimmt und daran interessiert ist, zu erfahren was es sieht, was es fühlt und was es denkt. Auch für Boris Charmatz und sein Musée de la Danse sind die Bühne und das Museum Orte, die diese Grenzen niederreißen. In seinem Tanzstück enfant fragt er nach unserem Blick auf Kindheit. Der Verzicht auf den bestimmten Artikel im Titel ist eine bedeutsame Geste. Sie lädt ein zu einem Schritt ins Offene und leistet Widerstand gegen eines der ehrgeizigsten und gewaltsamste Projekte der Moderne: Das Kind als Wille und Vorstellung.

No Education ist inspiriert von: Marguerite Duras: Les Enfants – Die Kinder (1984), Chris Dercon: Ik zou ein museum willen maken waar de dingen elkaar overlappen (2000); Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Production von Präsenz (2004); Jacques Rancière: Le spectateur emancipé – Der emanzipierte Zuschauer (2008); Tim Etchells: That Night Follows Day (2007); Ernst Pöppel: Drei Formen des Wissens – oder warum es keine ›letzten‹ Begründungen geben kann. (2011); Martin Tröndle: Is this Art? (2011) und seinForschungsprojekt eMotion – mapping-museum-experience sowie Darren O’Donnell von Mammalian Diving Reflex, Toronto.





Georges Pompidou oder Warum es nicht immer wichtig ist, zu wissen wo das Nature Theater of Oklahoma liegt. In: No Education. Programmheft Ruhrtriennale 2012