© matthias horn

permanent temporär
über eine nachhaltige kulturpraxis


Die Sache hat einen Namen: Nachhaltigkeit. Und ein Geheimnis: Ihre Spielregeln und Kriterien. Als wir vor drei Jahren mit den Vorbereitungen für das Programm der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 begannen, erlebten wir die nahezu propagandistische Verbreitung des Wortes Nachhaltigkeit. Als Teil eines Denkbildes, das sich als Gegenentwurf zu Kollaps und Krise versteht, begann es immer stärker andere Themen zu dominieren. Neben Wirtschaftsethik gehört der Umgang mit verfügbaren und noch zu erschließenden Potenzialen inzwischen zu den wichtigsten Diskussionen unserer Zeit.

Ähnlich wie beim Umweltproblem, Bankenproblem oder Kunstmarktproblem wurde auch in der Sphäre der Darstellenden Künste sicherlich zu lange auf Expansion, Wettbewerb, Standortegoismus oder Konsum gesetzt. Wenn der visionäre ­Horizont einer Gesellschaft durch Kultur und Kunst bestimmt wird, dann darf beides nicht mehr wie bisher als vermarktendes Produkt, sondern muss stärker als Quelle, als Potenzial verstanden werden, das in allen Menschen vorhanden und für alle Menschen zugänglich ist. Der Begriff der Nachhaltigkeit hat seine Karriere bisher vor allem in ökologischen und ­politischen Diskussionen gemacht. Doch spätestens seit dem Ende der Nullerjahren prägt nun das sogenannte N-Wort auch alle kulturstrategischen Pläne im Bereich von Theater, Oper und Tanz. Eine nachhaltige Ästhetik, eine nachhaltige ­Kulturpraxis – was kann das also sein? Und (zweite wichtige Frage): Wie lässt sich die nachhaltige von einer un-nachhaltigen Kulturpraxis unterscheiden?
Um das herauszufinden, haben wir internationale Künstler und Kuratoren eingeladen, gemeinsam mit den Festivals, Theatern, Produktionshäusern und Akademien der Region innovative Programme und Formate zu entwickeln. Gleichzeitig wurde jedes Projekt kritisch durchleuchtet: Ist es egalitär? Stellt es die Fähigkeit des Menschen zum Handeln in den Mittelpunkt? Hat es eine transformierende Wirkung? Trägt es zu einem aufgeklärten Verständnis von einer interkulturellen Gesellschaft bei? Werden Netzwerke gebildet? Fördert es neue künstlerische Entwicklungen?

strukturell nachhaltig: netzwerke kultureller bildung

Ein Gegenmodell zu einer konsumistischen Kulturpolitik sind Programme und Prozesse, die sich der Entwicklung, Ausbildung und Förderung junger Künstler widmen. Diese Initiativen und Modelle sind strukturell nachhaltig. Ein Best-Practice- Beispiel gibt die Biennale Tanzausbildung / Tanzplan Deutschland. Vor ein paar Jahren initiierte die Bundeskulturstiftung mit der Initiative Tanzplan Deutschland ein wegweisendes Modell für eine nachhaltige und nachdenkliche Kulturpraxis. Wie so häufig war sie damit vielen anderen Akteuren ein paar Züge voraus. Wichtige Fragestellungen zur Situation von Ausbildung, Forschung und Dokumentation – sie waren auf keiner kulturpolitischen Agenda zu finden. Mit der Ausrichtung der Biennale Tanzausbildung konnte nun in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium und dem Tanzplan ein mobiles Format etabliert werden, das den Studierenden, Künstlern und Experten aller deutschen Hochschulen im Zwei-Jahres-Rhythmus in wechselnden Städten ein Forum schafft, das ihren Interessen die notwendige Öffentlichkeit gibt. Die Initiative „Jedem Kind ein Instrument“, die „!SING Internationale Dirigentenakademie – Stimme und Orchester“, das Projekt „pottfiction. Theater, Kunst und Camps für Jugendliche der Metropole Ruhr“ und die Programmlinie des Henze-Projekts „education community composition“ sind weitere inspirierende Beispiele. Hier werden für und mit jungen Menschen Räume erobert für ästhetische Erfahrungen, Austausch und Experiment innerhalb einer geschützten Halböffentlichkeit. Ihre tatsäch­lichen Effekte werden erst nach 2010 zu spüren sein, weil sie auf Generationenverantwortung und zivil­gesell­schaftliches Potenzial setzen. So wie Wirtschafts- und Industrieunternehmen heute an einer guten Umweltbilanz ­interessiert sind, sollten Kulturinstitutionen in Zukunft mehr Zeit und Geld für eine gute Bildungsbilanz investieren.

sozial nachhaltig: partizipation

Einen großen Raum im Programm der Kulturhauptstadt haben sich Künstler geschaffen, die die Formen des Theaters nutzen, um sie in Skulptur, Video, Diskurs, Animation, Konzert, Happening und Alltag expandieren zu lassen. Ort und Autorenschaft lassen sich nicht mehr traditionell zuordnen. Die Handlungsräume von Künstlern und Bürgern überlagern sich. Künstlergruppen wie Rimini Protokoll („Herr Dag˘acar und die goldene Tektonik des Mülls“ / „Prometheus in Athen“), anschlaege.de („pottfiction“), raumlaborberlin („Odyssee Europa“) und das internationale Festival Theater der Welt geben Ausblicke auf Möglichkeiten, die entstehen, wenn Zuschauer als soziale Subjekte in den künstlerischen Prozess miteinbezogen werden. Die musikalische Bürgerbewegung „!SING“ hat die gesamte Musik- und Chorlandschaft mobilisiert. Der „Day of Song“ und die „Sinfonie der Tausend“ sind überwältigende Manifestationen für die große Bedeutung von Musik als Identitätsquelle und Motor für sozialen Wandel.

permanent temporär: ästhetische praxis

In der Praxis reduzieren sich nachhaltige Strategien häufig auf zwei pragmatische Fragen: Wie hoch sind die Kosten? Und was bleibt am Ende übrig? Doch dürfen wir dabei nicht das Vertrauen verlieren in die andauernde Kraft flüchtiger ­Erscheinungen und unruhiger Geister. „Es ist nicht möglich, aus dem Begriff Nachhaltigkeit Ästhetik zu generieren“, so ­lautet das Diktum des Architekten Wolf D. Prix, womit er auf eine grundsätzlich wichtige Forderung mit einem gesunden Abstandsreflex reagiert. Künstler, deren Spiel die Fesseln der Verhältnisse sprengt und sich über alles, was Zwang heißt, hinwegsetzt, gehören nicht in die Nachhaltigkeitszange. Nachhaltiges Denken und Handeln bedeutet eben auch zu ­respektieren, dass es ein Reich der ästhetischen Praxis gibt, dessen Vernutzung und Vernetzung sich von selbst verbietet. Es bleibt permanent temporär.

Kulturhauptstädte sind keine Titel, sondern Tools, um sich von alten Selbstbildern zu trennen und neue Perspektiven aufzu­fächern. Ihr Glück ist, dass sie beides können, gute Ideen generieren und sie in der wirklichen Welt realisieren. Sie sind Erfahrungslandschaften, in denen neue Spielregeln in modellhaften Projekten erprobt werden. Die RUHR.2010 hat gezeigt, dass Nachhaltigkeit kein Verzichtsappell sein muss (weniger Kunst, weniger Freiheit, weniger Festival, weniger Glamour, weniger Großprojekte), sondern Handlungsraum ist für eine Überlebenskunst, die nicht mehr Ressourcen verbraucht als sie entwickelt. Und dass das alles passieren konnte, trotz des Misstrauens vieler Bedenkenträger, ist schon fast eine lustige Geschichte.

dezember 2010


veröffentlicht in: ruhr.2010 – wandel durch kultur. das versprechen wurde eingelöst. in: politik & kultur. januar/februar 2011

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