Die
Sache hat einen Namen: Nachhaltigkeit. Und ein Geheimnis: Ihre
Spielregeln und Kriterien. Als wir vor drei Jahren mit den
Vorbereitungen für das Programm der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010
begannen, erlebten wir die nahezu propagandistische Verbreitung des
Wortes Nachhaltigkeit. Als Teil eines Denkbildes, das sich als
Gegenentwurf zu Kollaps und Krise versteht, begann es immer stärker
andere Themen zu dominieren. Neben Wirtschaftsethik gehört der Umgang
mit verfügbaren und noch zu erschließenden Potenzialen inzwischen zu den
wichtigsten Diskussionen unserer Zeit.
Ähnlich
wie beim Umweltproblem, Bankenproblem oder Kunstmarktproblem wurde auch
in der Sphäre der Darstellenden Künste sicherlich zu lange auf
Expansion, Wettbewerb, Standortegoismus oder Konsum gesetzt. Wenn der
visionäre Horizont einer Gesellschaft durch Kultur und Kunst bestimmt
wird, dann darf beides nicht mehr wie bisher als vermarktendes Produkt,
sondern muss stärker als Quelle, als Potenzial verstanden werden, das in
allen Menschen vorhanden und für alle Menschen zugänglich ist. Der
Begriff der Nachhaltigkeit hat seine Karriere bisher vor allem in
ökologischen und politischen Diskussionen gemacht. Doch spätestens seit
dem Ende der Nullerjahren prägt nun das sogenannte N-Wort auch alle
kulturstrategischen Pläne im Bereich von Theater, Oper und Tanz. Eine
nachhaltige Ästhetik, eine nachhaltige Kulturpraxis – was kann das also
sein? Und (zweite wichtige Frage): Wie lässt sich die nachhaltige von
einer un-nachhaltigen Kulturpraxis unterscheiden?
Um
das herauszufinden, haben wir internationale Künstler und Kuratoren
eingeladen, gemeinsam mit den Festivals, Theatern, Produktionshäusern
und Akademien der Region innovative Programme und Formate zu entwickeln.
Gleichzeitig wurde jedes Projekt kritisch durchleuchtet: Ist es
egalitär? Stellt es die Fähigkeit des Menschen zum Handeln in den
Mittelpunkt? Hat es eine transformierende Wirkung? Trägt es zu einem
aufgeklärten Verständnis von einer interkulturellen Gesellschaft bei?
Werden Netzwerke gebildet? Fördert es neue künstlerische Entwicklungen?
strukturell nachhaltig: netzwerke kultureller bildung
Ein
Gegenmodell zu einer konsumistischen Kulturpolitik sind Programme und
Prozesse, die sich der Entwicklung, Ausbildung und Förderung junger
Künstler widmen. Diese Initiativen und Modelle sind strukturell
nachhaltig. Ein Best-Practice- Beispiel gibt die Biennale Tanzausbildung
/ Tanzplan Deutschland. Vor ein paar Jahren initiierte die
Bundeskulturstiftung mit der Initiative Tanzplan Deutschland ein
wegweisendes Modell für eine nachhaltige und nachdenkliche Kulturpraxis.
Wie so häufig war sie damit vielen anderen Akteuren ein paar Züge
voraus. Wichtige Fragestellungen zur Situation von Ausbildung, Forschung
und Dokumentation – sie waren auf keiner kulturpolitischen Agenda zu
finden. Mit der Ausrichtung der Biennale Tanzausbildung konnte nun in
Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium und dem Tanzplan ein mobiles
Format etabliert werden, das den Studierenden, Künstlern und Experten
aller deutschen Hochschulen im Zwei-Jahres-Rhythmus in wechselnden
Städten ein Forum schafft, das ihren Interessen die notwendige
Öffentlichkeit gibt. Die Initiative „Jedem Kind ein Instrument“, die
„!SING Internationale Dirigentenakademie – Stimme und Orchester“, das
Projekt „pottfiction. Theater, Kunst und Camps für Jugendliche der
Metropole Ruhr“ und die Programmlinie des Henze-Projekts „education
community composition“ sind weitere inspirierende Beispiele. Hier werden
für und mit jungen Menschen Räume erobert für ästhetische Erfahrungen,
Austausch und Experiment innerhalb einer geschützten Halböffentlichkeit.
Ihre tatsächlichen Effekte werden erst nach 2010 zu spüren sein, weil
sie auf Generationenverantwortung und zivilgesellschaftliches
Potenzial setzen. So wie Wirtschafts- und Industrieunternehmen heute an
einer guten Umweltbilanz interessiert sind, sollten Kulturinstitutionen
in Zukunft mehr Zeit und Geld für eine gute Bildungsbilanz investieren.
sozial nachhaltig: partizipation
Einen
großen Raum im Programm der Kulturhauptstadt haben sich Künstler
geschaffen, die die Formen des Theaters nutzen, um sie in Skulptur,
Video, Diskurs, Animation, Konzert, Happening und Alltag expandieren zu
lassen. Ort und Autorenschaft lassen sich nicht mehr traditionell
zuordnen. Die Handlungsräume von Künstlern und Bürgern überlagern sich.
Künstlergruppen wie Rimini Protokoll („Herr Dag˘acar und die goldene
Tektonik des Mülls“ / „Prometheus in Athen“), anschlaege.de
(„pottfiction“), raumlaborberlin („Odyssee Europa“) und das
internationale Festival Theater der Welt geben Ausblicke auf
Möglichkeiten, die entstehen, wenn Zuschauer als soziale Subjekte in den
künstlerischen Prozess miteinbezogen werden. Die musikalische
Bürgerbewegung „!SING“ hat die gesamte Musik- und Chorlandschaft
mobilisiert. Der „Day of Song“ und die „Sinfonie der Tausend“ sind
überwältigende Manifestationen für die große Bedeutung von Musik als
Identitätsquelle und Motor für sozialen Wandel.
permanent temporär: ästhetische praxis
In
der Praxis reduzieren sich nachhaltige Strategien häufig auf zwei
pragmatische Fragen: Wie hoch sind die Kosten? Und was bleibt am Ende
übrig? Doch dürfen wir dabei nicht das Vertrauen verlieren in die
andauernde Kraft flüchtiger Erscheinungen und unruhiger Geister. „Es
ist nicht möglich, aus dem Begriff Nachhaltigkeit Ästhetik zu
generieren“, so lautet das Diktum des Architekten Wolf D. Prix, womit
er auf eine grundsätzlich wichtige Forderung mit einem gesunden
Abstandsreflex reagiert. Künstler, deren Spiel die Fesseln der
Verhältnisse sprengt und sich über alles, was Zwang heißt, hinwegsetzt,
gehören nicht in die Nachhaltigkeitszange. Nachhaltiges Denken und
Handeln bedeutet eben auch zu respektieren, dass es ein Reich der
ästhetischen Praxis gibt, dessen Vernutzung und Vernetzung sich von
selbst verbietet. Es bleibt permanent temporär.
Kulturhauptstädte
sind keine Titel, sondern Tools, um sich von alten Selbstbildern zu
trennen und neue Perspektiven aufzufächern. Ihr Glück ist, dass sie
beides können, gute Ideen generieren und sie in der wirklichen Welt
realisieren. Sie sind Erfahrungslandschaften, in denen neue Spielregeln
in modellhaften Projekten erprobt werden. Die RUHR.2010 hat gezeigt,
dass Nachhaltigkeit kein Verzichtsappell sein muss (weniger Kunst,
weniger Freiheit, weniger Festival, weniger Glamour, weniger
Großprojekte), sondern Handlungsraum ist für eine Überlebenskunst, die
nicht mehr Ressourcen verbraucht als sie entwickelt. Und dass das alles
passieren konnte, trotz des Misstrauens vieler Bedenkenträger, ist schon
fast eine lustige Geschichte.
dezember 2010
veröffentlicht in: ruhr.2010 – wandel durch kultur. das versprechen wurde eingelöst. in: politik & kultur. januar/februar 2011