ikonen des selbstseins
über jitka hanzlová
fünfzehn porträts/ fifteen portraits
Das Prinzip Jugend steht für Sturm und Drang, für Energie und Revolte, aber auch für Inspiration und Antrieb. Im Leben des Komponisten Hans Werner Henze war die Jugend immer wieder Motor für neue Kompositionen und Projekte. Beflügelt von den offenen Bühneräumen der Industriespielstätten und den zahlreichen Akademien und jungen Ensembles des Ruhrgebiets entwickelte Henze ein Musiktheaterstück für Teenager und Young Professionals. Die Porträts der Fotografin Jitka Hanzlová zeigen Sänger, Musiker, Mimen und Tänzer, die die Uraufführung von „Gisela! oder die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks“ im September 2010 erarbeitet haben. Das Glück des Dabeigewesenseins, das sie während der Proben und Aufführungen erlebt haben, ist inzwischen so verinnerlicht, dass es auf ihren Gesichtern gar nicht mehr thematisiert werden muss.
Fotografien von Jugendlichen spielen häufig in einer aufgeregten Welt. Man sieht sie auf der Straße, im Netz, in Clubs, in Cliquen oder am Telefon. Sie hängen ab, surfen rum, tanzen die Nacht durch, sind einfach kompliziert und dabei provozierend sexy. Sie tun das, was eben so ansteht, wenn das Kindsein zu Ende ist und man das Erwachsenwerden am liebsten noch aufschieben möchte. Schon aus Prinzip. Das Prinzip Jugend probiert Verhaltensformen an wie Sonnenbrillen. Immer auf der Suche nach einem Look, einem Lebens-Code, der möglichst verhindern soll, dass man ihnen bei der Wahrnehmung des eigenen Chaos zusehen kann. Alles – nur bitte keinen Vorstoß ins Innere!
Jugendliche leben häufig in einem Konglomerat von Zeiten. Nicht nur, dass dabei ihr biologisches Alter mit dem Alter ihres Bewusstseins durcheinander gerät, sie wechseln in Sekundenschnelle die Zeiten: Ich-war-ich-bin-ich-werde! Dieses große, fieberhafte Zugleich von wechselnden Zuständen und Möglichkeiten ist so etwas wie ihr natürliches Milieu.
Diejenigen, die sich hier der Kamera von Jitka Hanzlová anvertraut haben, sehen aus, als lebten sie in einer Sphäre, in der es nur die vollendete Gegenwart gibt.
John Berger hat für dieses Phänomen in seinem Essay über ihre Serie „Forest“ eine Erklärung gefunden: „Je länger man Jitka Hanzlovás Bilder betrachtet, desto klarer wird, dass es möglich ist, aus dem Gefängnis moderner Zeit zu fliehen.“ Diese bestechende, bis ins Letzte glaubhafte Wirkung ihrer Bilder war der Grund, warum wir Jitka Hanzlová eingeladen haben, die Teenager und Young Professionals zu fotografieren, die im September 2010 Hans Werner Henzes neue Oper „Gisela!“ uraufgeführt haben. Für ein paar Spätsommerwochen hatte diese Gruppe „Unzeitgemäßer“ das Gelände um die Maschinenhalle Gladbeck Zweckel in ein Musik-Camp verwandelt, das den Horizont aufmachte für eine alternative Moderne, für ein Zeitalter der ästhetischen Erfahrung, des offenen Zweifels, der fehlenden Posen und mangelnden Eile.
Jitka Hanzlová hat eine Digitalkamera, aber sie benutzt sie kaum. Sie fotografiert vorwiegend analog. Sie hat einen Computer, aber verbringt die längste Zeit im Labor. Stunden, Tage, wenn es sein muss ganze Wochen. Solange bis die Farben den Portraitierten eine Materialität verleihen, die den Eindruck erweckt, es handle sich hier um Malerei. Sie bringt damit eine Innerlichkeit zum Ausdruck, ohne die Intimität des Augenblicks zu verletzen. Ihr Blick ist wie eine höhere Macht, die die Gesichter zu Ikonen des Selbstseins modelliert.
veröffentlicht in: das henze-projekt. neue musik für eine metropole. dokumentation. hrsg. von der ruhr.2010 gmbH, dt., engl., mit audio-CD, 128 seiten, essen 2011.